* 22 *

22. Die Alfrun

 

Snorri

Feuerspei strahlte eine gewisse Zuversicht und Entschlossenheit aus. In gemächlichem Tempo flog er am Fluss entlang nach Süden in Richtung Port.

»Hoffentlich fliegt er nicht aufs offene Meer hinaus«, sagte Jenna.

»Ja«, stimmte Wolfsjunge zu, der sich drachenkrank, wie er war, im Moment nichts Schlimmeres vorstellen konnte. Um auf andere Gedanken zu kommen, schaute er hinab auf das silberne Band des Flusses, das unter ihnen dahinschlängelte, und hielt nach Sams Strand Ausschau, wo er mit 412 vor ein paar Monaten aus dem Wald gekommen war. Bei der Erinnerung daran lächelte er. Wie hatte er sich über das Wiedersehen mit seinem besten Freund gefreut! Obwohl 412 mit seinem Kameraden aus der Jungarmee nicht mehr viel Ähnlichkeit hatte. Nicht nur, dass seine Haare gewachsen waren, dass er eine Familie hatte und einen komischen Namen und eine schicke Lehrlingstracht mit Gürtel trug. Es war viel mehr. 412 war jetzt selbstsicher, lustig und ... ja, und noch netter als früher. Und jetzt... jetzt war er verschwunden ... Vielleicht für immer.

»Hast du das Quarantäneschild am Kai gesehen?«, riss ihn Jennas Stimme aus seinen Gedanken. Er war froh darüber.

»Was für ein Schild?«, schrie er gegen das Rauschen von Feuerspeis Flügeln an. Er konnte ein Schild nicht vom anderen unterscheiden. Und was war überhaupt eine Quarantäne? Er stellte sich darunter ein schreckliches Monster vor, eine Art Ungeheuer, das vielleicht just in diesem Augenblick 412 durch den Wald hetzte oder wo immer er sein mochte. Wolfsjunge war ein ausgezeichneter Fährtenleser, aber jetzt war er mit seiner Weisheit am Ende. Wie soll man jemanden aufspüren, der durch einen Spiegel gezogen wird?

»Das wegen der Seuche!«, schrie Jenna über die zwei Ratten hinweg, die ihre Unterhaltung verfolgten, als beobachteten sie ein Tennismatch. »Und der Blockade. Das bedeutet, dass dieses Jahr keine Nordhändler kommen. Ohne den Händlermarkt wird es ein trauriges Mittwinterfest!«

»Ah ja«, sagte Wolfsjunge, und dann brüllte er: »Was ist ein Nordhändler?«

»Die haben sehr schöne Boote«, wagte Stanley zu bemerken. »Fahren überallhin, diese Boote. Als ich noch Botenratte war, musste ich allerdings mächtig aufpassen. Nordhändler achteten streng darauf, dass keine Ratten an Bord waren. Und das mussten sie auch, um die Marktvorschriften einzuhalten. Sie hatten auf ihren Booten die schlimmsten Katzen, denen ich jemals begegnet bin. Bei meinem letzten Auftrag als Botenratte hatte ich einen schrecklichen Zusammenstoß mit der Katze so eines Händlers.« Stanley schüttelte trübselig den Kopf. »Ich hätte es ahnen müssen. Der schlimmste Auftrag aller Zeiten war das – ich bin nie einer Ratte begegnet, die etwas Vergleichbares durchgemacht hat. Habe ich Ihnen eigentlich schon von Mad Jack erzählt...« Und so plapperte Stanley weiter in der seligen Unwissenheit, dass niemand ihn verstand, weil Feuerspeis Flügel zu viel Lärm machten. Niemand außer Dawnie, aber die hörte sich von allem, was Stanley sagte, grundsätzlich immer nur den ersten Satz an.

»Da unten ist einer!«, rief Jenna als Antwort auf Wolfsjunges Frage. »Schau!«

Wolfsjunge spähte zum Fluss hinab. Weiter unten entdeckte er ein langes, schmales Boot mit einem großen weißen Segel, das stromabwärts fuhr – in dieselbe Richtung, in die Feuerspei flog. Er spürte, dass der Drache seinen Rhythmus änderte, und seine Übelkeit ließ etwas nach.

»Wir verlieren an Höhe!«, rief Jenna.

Feuerspei verlangsamte seine Flügelschläge und ging tiefer. Jenna schaute in die Runde, um festzustellen, wohin er wollte, und ihr Herz schlug schneller. Kein Zweifel, Feuerspei hatte ein bestimmtes Ziel. Der Suchzauber funktionierte. Bald, vielleicht schon sehr bald, waren sie bei Septimus.

»Er fliegt aufs Wasser zu!«, rief Wolfsjunge.

»Nein. Er fliegt in den Wald!«, rief Jenna zurück.

Feuerspei hatte abgedreht und den Fluss hinter sich gelassen. Er segelte jetzt über dem Wald dahin und verlor weiter an Höhe. Dann, als Wolfsjunge und Jenna sich gerade mit einer Landung zwischen den Bäumen abgefunden hatten, änderte er abermals den Kurs und flog zurück zum Fluss.

»Er fliegt im Kreis!«, rief Jenna. »Ich glaube, er sucht einen Landeplatz.« Jenna hatte recht, aber nur zur Hälfte. Feuerspei flog im Kreis, aber er wusste genau, wo er landen wollte. Er wusste nur noch nicht, wie.

Nach drei weiteren Runden über dem Wald war er den Baumwipfeln so nahe, dass die Passagiere hinabfassen und Blätter abrupfen konnten. Die dünne Rauchsäule eines Lagerfeuers stieg herauf, und Wolfsjunge überkam Heimweh nach dem Lager der jungen Heaps.

Die Bäume blieben zurück, und Feuerspei sauste im Sturzflug auf den Fluss zu. Dawnie schrie auf. Rechts vor ihnen tauchte das Händlerboot auf, von dem ein verlockender Duft nach gebratenem Speck heraufwehte.

Jenna hielt es für ausgeschlossen, dass ein fünf Meter langer Drache auf einem zwanzig Meter langen Boot, das ein großes Segel gesetzt hatte, landen konnte. Und die Skipperin des Bootes war offensichtlich derselben Meinung, denn als Feuerspei noch tiefer ging und schließlich direkt über dem Boot schwebte, ruderte sie wild mit den Armen und rief etwas in einer fremden Sprache. Jenna verstand ihre Worte nicht, aber sie wusste genau, was sie bedeuteten.

Feuerspei wusste es nicht, und es war ihm auch schnuppe. Er visierte das flache Kajütendach an, denn er roch Frühstück. Auch ein Drache auf Suchmission musste frühstücken. Ganz besonders ein Drache auf Suchmission.

Sie landeten mit einem dumpfen Schlag. Der Aufprall war für Drachenverhältnisse nicht besonders heftig, aber doch heftig genug, um die Alfrun fast bis zum Schandeckel ins Wasser zu drücken. Im nächsten Moment schnellte sie wieder in die Höhe, schaukelte hin und her und verursachte Wellen, die das Flussufer unterspülten. Die Skipperin stürzte herbei, wütend einen langen Bootshaken schwingend.

»Verschwinde!«, schrie Snorri Snorrelssen. »Los, verschwinde!«

Snorri hatte einen schlechten Tag gehabt. Im Morgengrauen war sie von schweren Schritten auf ihrem Kajütendach und hartnäckigem Hämmern gegen den Lukendeckel geweckt worden. Normalerweise ließ sie sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen, aber das hatte ihr Angst gemacht. In letzter Zeit war es für Fremde in der Burg sehr ungemütlich geworden. Die Bewohner gaben den Händlern die Schuld an der Seuche, und Snorri war bei ihren Spaziergängen häufig beschimpft worden. Seit ein paar Tagen hatte sie sich auf der Alfrun verkrochen und auf das Eintreffen weiterer Nordhändler gewartet. Doch es war keiner gekommen. Snorri wusste nicht, dass die Fischerboote, die am Rabenstein den Fluss abriegelten, alle mit einem Hagel von Beschimpfungen und verfaulten Fischen wieder vertrieben.

Und so war Snorri heute im Morgengrauen losgesegelt, nachdem man ihr zehn Minuten Zeit gegeben hatte. »Mach, dass du fortkommst, sonst ...« Sie war auf dieses »Sonst« nicht neugierig gewesen und hatte gemacht, dass sie fortkam. Und nun, da sie gerade damit begonnen hatte, sich über ihre Lage klar zu werden, landete ein Drache mit dem Gewicht von 764 Möwen auf ihrem Kajütendach. Nein, heute war wahrlich kein guter Tag.

Die Alfrun war sozusagen aus härterem Holz geschnitzt als der morsche Fischerkahn auf der Bootswerft. Das Deck knarrte zwar etwas ungehalten, hielt aber stand. Das Boot lag nur etwas tiefer im Wasser und setzte die Fahrt stromabwärts fort, allerdings nahm es der neue Passagier nicht freundlich auf, dass ihm ein spitzer Bootshaken in die Rippen gestoßen wurde. Jenna spürte unter ihren Füßen das verräterische Rumpeln in Feuerspeis Feuermagen.

»Nicht, Feuerspei!«, rief sie und kletterte von seinem Rücken herunter – zum großen Erstaunen Snorris, die gar nicht bemerkt hatte, dass der Drache Passagiere beförderte. Das Rumpeln wurde lauter. Wolfsjunge hörte es und sprang ebenfalls ab, und die beiden Ratten flitzten den Mast hinauf auf eine dünne Nock, wo sie hocken blieben wie ein komisches Möwenpaar.

Jenna riss den Bootshaken an sich, mit dem Snorri Feuerspei pikte. »Reiz ihn nicht«, schrie sie. »Bitte!« Aber Snorri war größer und stärker und entwand ihr den Bootshaken wieder. Das Rumpeln im Feuermagen schwoll weiter an, bis es sogar Snorri auffiel. Sie hielt inne und blickte verdutzt.

»Was ... was ist das?«, fragte sie in Jennas Sprache.

»Feuer!«, schrie Jenna. »Er macht Feuer!«

Snorri kannte das Wort Feuer, wie jeder Kapitän, nur zu gut. Sie ergriff zwei Eimer, an deren Henkel ein Seil gebunden war, und drückte einen Jenna in die Hand. »Wasser!«, rief sie. »Hol Wasser!«

Jenna folgte Snorris Beispiel und warf ihren Eimer, das Seil festhaltend, in den Fluss, zog ihn randvoll wieder heraus und schleuderte das trübe grüne Wasser in Richtung Feuerspei. Es traf den verdutzten Wolfsjunge, der geistesgegenwärtig damit begonnen hatte, den Drachen mit Snorris Frühstück, bestehend aus Brot und Speck, zu füttern. Im selben Augenblick bemerkte Jenna, dass das Rumpeln aufgehört hatte.

Wolfsjunge grinste. »Ich habe mir gedacht, er kann nicht gleichzeitig fressen und Feuer speien.«

Snorri sah zu, wie Feuerspei den letzten Rest ihres Specks verdrückte, das restliche Wasser aus dem Löscheimer schlürfte und zum Nachtisch den Holzteller verschlang. Das, so dachte Snorri, wird Ärger geben. Man musste kein Geisterseher sein, um das zu begreifen.

Septimus Heap 03 - Physic
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